Frithjof Bergmann, Urvater der New Work-Bewegung, entwickelte seine Theorie eines neuen Arbeitskonzepts vor über 40 Jahren. Fast 90-jährig landete er dann als Speaker auf Konferenzen und in großen Agenturen. Die Digitalisierung hatte seine Idee der persönlichen Freiheit von Arbeitnehmern wieder aktuell gemacht. Doch dann brachte eine Pandemie die Arbeitswelt dazu, New Work partiell tatsächlich zu praktizieren. Was aber sind die Herausforderungen dabei? Ich habe mit Führungskräften unterschiedlicher Branchen darüber gesprochen.
Eine grundlegende Neuerung ist die Verlagerung nicht nur strategischer, sondern auch operativer Tätigkeiten ins Home-Office. Wurden bisher die Stunden zu Hause hauptsächlich für Tätigkeiten genutzt, die Ruhe und Konzentration erforderten – z.B. die Erstellung von Konzepten –, fand plötzlich alles unfreiwillig in Isolation statt. Wie schafft man da Struktur?
Nahezu überall fanden tägliche virtuelle Meetings unter unterschiedlichsten Namen statt – vom morgendlichen „Daily Meeting“ über das „Daily Stand up“ bis zum „Check-in“: Man* brachte sich per Videokonferenz auf Stand, präsentierte Zwischenergebnisse, klärte schon auch mal Persönliches. Die meisten registrierten eine Erhöhung der Frequenz, aber eine tendenzielle kürzere Dauer bei Meetings.
„Die Frequenz der wöchentlichen Teammeetings per Videochat haben wir erhöht, da es in der aktuellen kritischen Business-Situation wichtig ist, sich sofort auf den neusten Stand zu bringen.“ (VF, HR Managerin in der Luftfahrtindustrie)
Was wegfiel und extrem vermisst wurde, war der schnelle Plausch in der Kaffeeküche. Die Informationen, die auf diesem Weg ganz nebenbei die richtigen Adressaten erreichten, gingen oft einfach unter. Lockere Formate wie das „Virtuelle Café“ oder der „Coffee Chat“ sollten Abhilfe schaffen, auf freiwilliger Basis auch Formate wie das „Virtuelle After-Work“ mit Wein und Bier. Ein wahres Revival erlebte die Chat-Funktion in Groupware, wie z.B. in MS Teams, da sich Fragen darüber schnell und unkompliziert klären ließen.
Was vielen Mitarbeiterinnen in der Coronakrise fehlte, war der private Austausch. Einige Führungskräfte sahen das Dilemma und schufen lockere Formate auf freiwilliger Basis. Im „Coffee Chat“ eines Unternehmens der Luftfahrtindustrie stand der Austausch über Persönliches im Vordergrund:
„In unserem Coffee Chat geht es nicht um die Arbeit, sondern wir tauschen uns aus, wie es jedem gerade in der Corona-Situation geht, lachen gemeinsam, geben Tipps zum Kochen für zuhause etc.“ (VF, HR Managerin in der Luftfahrtindustrie)
Nahezu alle interviewten Führungskräfte berichten von einer neuen Ebene des privaten Austauschs. Denn Kinderbetreuung oder die Pflege kranker Familienmitglieder war mit einem Schlag sehr viel komplizierter geworden und erschwerte so die Arbeitsbedingungen. Kurz: Themen die früher bei der Arbeit selten auf den Tisch kamen, fanden Raum – und ein offenes Ohr auf Führungsebene.
„Ich versuche, einen Perspektivwechsel zu machen und mich in meine Mitarbeiter hineinzuversetzen. Die non-verbale Kommunikation fehlt wirklich. Um eine Verbindung herzustellen bzw. zu halten, versuche ich, gemeinsame Themen zu finden, z.B. die Kinderbetreuung.“ (BW, Regionalmanager für ein Consulting Team in der IT-Branche)
Grundsätzlich sahen alle Befragten in der neuen Situation eine veränderte Balance zwischen Präsenz und Sich-Raushalten, Vertrauen und Nachhaken. Mindestens einmal pro Woche ein Telefonat mit jedem Mitarbeiter zu führen, erwies sich als guter Rhythmus, um sie weiterhin persönlich in ihrem Umfeld abzuholen.
„Führung sollte insgesamt weitreichender gesehen werden. Es ist wichtig, auf Balance zu achten zwischen Arbeit und der Familie mit Kindern oder Eltern, die man pflegen muss. Darüber zu sprechen: Wie kann man für sich selbst gut sorgen, gerade in dieser Zeit?“ (AH, Managerin aus der Logistikbranche)
Der ursprüngliche New Work-Gedanke, wie ihn vor 40 Jahren Bergmann sah, ist also durch die Krise näher an uns herangerückt. Die Definition geht weit über den bisher gern gesetzten Fokus auf agiles Arbeiten und Home-Office hinaus und legt ein tieferes Verständnis von Führung zugrunde:
„Ich lege Wert darauf zu vermitteln: Ich nehme wahr, dass mein Gegenüber ein Mensch ist. Ganzheitlich auf die Situation zu gucken und Vertrauen zu haben.“ (JF, Manager eines Import- und Handelsunternehmens)
Letztlich haben alle befragten Führungskräfte die Krise als Chance für eine neue, persönlichere und bewusstere Form von Führung begriffen – trotz der Herausforderungen und Schwierigkeiten, die sie mit sich brachte.
Im Zuge meiner Tätigkeit als Dozentin an der FOM Hochschule für Ökonomie und Management habe ich mich intensiv mit virtueller Führung auseinandergesetzt. Als Executive Coach erlebe ich zudem täglich den praktischen Arbeitsalltag von Führungskräften, spreche über Fragestellungen zu Haltung, Kommunikation, Techniken und Abläufen. Corona hat sie alle vor ganz neue Herausforderungen gestellt: Digitales Arbeiten war mit einem Schlag Realität. Ich habe mit einigen von Ihnen zu den aktuellen Herausforderungen gesprochen und die Ergebnisse für diesen Blogtext gebündelt.
In der nächsten Folge meiner Blogserie zum Thema „Virtuelle Führung“ gebe ich Software-Tipps – alle praxiserprobt von meinen Interviewpartnern.
* Liebe Leserinnen und liebe Leser! In meinen Blogtexten benutze ich abwechselnd die weibliche und männliche Form. Ich habe mich dafür entschieden, um den Lesefluss nicht durch *innen oder ähnliche Variationen des Genderns zu stören.
Das Konzept des „Open Leadership“ basiert auf gegenseitigem Vertrauen. Von der Führungskraft setzt das ein hohes Maß an Offenheit im Dialog und in der Beziehungspflege voraus. Mitarbeiterinnen* dürfen und sollen Kontrollaufgaben übernehmen, möglichst eigenständig arbeiten und entscheiden. Der Fachbegriff für dieses Führungskonzept wurde bereits 2010 mit vier Buchstaben auf den Punkt gebracht: Das HERO-Konzept steht für „Highly Empowered and Recourceful Operatives“ und spricht Mitarbeitern mit hoher Eigenständigkeit und ausgeprägten Kompetenzen neue Kontroll- und Koordinationsaufgaben zu.
Kurz: Bisher ging es um bewusste Gestaltung der Aufgabenerledigung. Das Web 2.0 hingegen macht weitgehend ungeplante und eigengesetzliche Entwicklung möglich. Die Selbststeuerungsfähigkeit von Teams wird erhöht.
Virtuelle Führung hat also viel mit Loslassen zu tun. Gegenseitiges Vertrauen ist dabei unabdingbar. Mit Haltung führen – und das auch über digitale Distanz hinweg -, ist hier das Mittel der Wahl. Aber wie lässt sich das unter virtuellen Bedingungen ermöglichen und stärken? Die örtliche und zeitliche Distanz der Akteurinnen erschwert diesen Prozess schließlich erheblich. Gute Kommunikation, Empathie und Verständnis sind hier die Schlüsselwörter. In der Praxis gibt es einen gut nutzbaren Werkzeugkasten, um diese drei Faktoren zu stärken.
Kick-off-Meetings funktionieren auch virtuell. Es stärkt die Teamentwicklung, gemeinsam Ziele und Erwartungen zu klären. Im weiteren Verlauf helfen regelmäßige (virtuelle) Treffen, um das Team in Fortschritte und Ideen mit einzubeziehen. Bei sogenannten „Check-ins“ lassen sich alle Teammitglieder auf Stand bringen sowie Aufgaben und Verantwortungen effizient verteilen. In Krisenzeiten wie diesen, in denen alle Mitarbeiter im Home-Office sitzen, hilft ein morgendlicher gemeinsamer „Check-in“ gut in den Tag. Wissenschaftlich sind Zusammenhänge zwischen der Häufigkeit von Interaktion und Mitarbeiterleistung übrigens nachgewiesen.
Dass Führung im virtuellen Kontext viel mehr ist als Aufgabenverteilung, ist klar. Kommunikative Fähigkeiten wie Zuhören und Sondieren, um die Standpunkte der Teammitglieder zu verstehen, gewinnen an Bedeutung. Arbeitsfortschritte aus der Distanz zu kontrollieren, ist ein Kunststück, das Besonnenheit benötigt. Und seinen Mitarbeiterinnen genügend Freiraum zu lassen – insbesondere auch beim Thema Work-Life-Balance –, ist nicht einfach. Führungskräfte entwickeln sich im Unternehmen 2.0 immer mehr in Richtung Mentor und Coach.
Natürlich ist das persönliche Gespräch nicht zu toppen. Was also tun, wenn das Corona-bedingt nicht möglich ist? Ein schneller Griff zum Telefonhörer oder eine kurze E-Mail mag bei simplen Absprachen ausreichend sein. Was aber tun bei einem sensiblen Mitarbeitergespräch oder der Besprechung einer komplexen neuen Aufgabe? Hier ist die non-verbale Kommunikation ein essentieller Bestandteil des Gesprächs. In der derzeitigen Lage ist also tatsächlich immer die Videokonferenz ein probates Mittel.
Praktische Tipps, wie Sie sich als Führungskraft für die Herausforderungen der virtuellen Arbeitswelt wappnen, gibt´s nächste Woche im dritten Teil meiner Blogserie „Virtuelle Führung“.
Bei der Vorbereitung meiner ersten Online-Vorlesung zum Thema „Virtuelle Führung“ an der FOM Hochschule für Ökonomie & Management, aus der heraus diese Blogserie entstanden ist, habe ich mich mit spannenden Impulsen folgender Autoren auseinandergesetzt:
Peter M. Wald, Lang, R., Rybnikova, I. (2014): Aktuelle Führungstheorien und -konzepte, Wiesbaden
Buhse, W. (2014). Management by Internet. Kulmbach: Plassen
* Liebe Leserinnen und liebe Leser! In meinen Blogtexten benutze ich abwechselnd die weibliche und männliche Form. Ich habe mich dafür entschieden, um den Lesefluss nicht durch *innen oder ähnliche Variationen des Genderns zu stören.